Lektüren als Suche und Geste des Widerstands

Sefirah ist ein Begriff aus der jüdischen Mystik. Er bezeichnet eine von zehn korrelierten Sphären – die Sefiroth: ein »Urbild der Schöpfung« (Gershom Scholem), welches deren tiefste Geheimnisse enthält und erfahrbar werden lässt als überwältigendes Anderes, das immer wieder neu zu begreifen ist. Der mystischen Tradition, von der sie sich ihren Namen borgt, folgt unsere Verlagsreihe im Sinne einer Denkfigur: Jede Ausgabe versteht sich als Teilfunktion eines unbestimmten, dynamischen Ganzen; jede Ausgabe schreibt sich der Herausforderung ein, den Weltzustand nicht aus den bestehenden Sprach- und Begriffsordnungen, sondern über diese hinaus, also anders zu erschließen.
Kern jeder Sefirah bilden kurze Texte, Textfragmente oder Bilder unterschiedlicher Interessenbereiche, die in einer paradoxalen Funktion der Abweichung und des Widerspruchs zu Gegenwartsdiskursen gelesen werden können. Integriert werden sie von kritischen Anregungen, die das antinomische Potenzial der Kerntexte erklären, aber auch vervielfachen sollen. In der kritischen Lektüre selbst wird eine Geste des Widerstands geltend gemacht. Einer immer stärker von Systemzwängen bestimmten Zeit, die alles nur noch in einer Beziehung der Koeffizienz des technischen und ökonomischen Wachstums begreifen will, stellt jede einzelne Sefirah das paradoxale Ereignis eines Anderen gegenüber: In ihr soll sich die
unerwartete Vielfalt des jeweiligen vergangenen Textes wie ein unheimlicher Raum eröffnen, in dem die Leser:innen in einen Prozess der Suche verwickelt werden, der sie als freie Wesen in Anspruch nimmt.
Die Welt stellt mir hinterlistige Fragen. Meine Wörter antworten ihr offenherzig mit Fragen.
(Rose Ausländer)